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Die nackte Marianne bleibt bekleidet

VOR DER PREMIERE: Mit „Geschichten aus dem Wienerwald“ präsentiert das Theater im Steinbruch nur vordergründig heile Welt.

„Geschichten aus dem Wienerwald“ heißt das Stück, das das Theater im Steinbruch in diesem Sommer zwischen dem 20. Juni und 8. August auf der Freilichtbühne in dem alten Natursteinbruch spielt. Das klingt anheimelnd, gemütlich. Doch nur vordergründig geht es um fesche Madln, Wiener Schmäh und heile Welt, um den Heurigen und um die große Liebe. Denn all das erleben ganz normale Menschen – und zeigen dabei auch ein Stück ganz normale Unmenschlichkeit.

DAS STÜCK
Von diesem Kontrastprogramm lebt die Aufführung. Ja, die Handlung spielt in Wien, ja, ein bisschen Musik des Walzerkönigs gehört dazu. Und eine Liebesgeschichte in klassischer Manier: Die Tochter, die die arrangierte Heirat verschmäht und einen Hallodri vorzieht, ein Kind bekommt… Es könnte ein kitschiger Abend werden. Aber Ödön von Horváth hat die realistische Variante gewählt; bei ihm sind die Menschen so, wie sie nun mal sind, oft rücksichtslos, mit kleinbürgerlich-großsprecherischem Gehabe, mit ihrer Sorge um den schönen Schein und deren unschönen Folgen – und mit der kühlen Logik des Ungeheuerlichen.

Wo liegen die Tücken bei der Inszenierung? Weil ein Saalstück für die Freilichtbühne umgearbeitet wurde, müssen Umbaupausen und Szenenwechsel kreativ überbrückt werden – die Zuschauer sehen ja immer mit und finden’s im Idealfall selbstverständlich; etwa weil dabei gesungen wird. Der musikalische Leiter Michael Bach verspricht allerhand musikalische Schmankerl, darunter ein verjazztes „Mariandl“. Neu ist die Livemusik: Vier Schauspieler, bisher absolute „Nichtmusiker“ werden sich auf Mandoline, Gitarre, Bassgitarre und Akkordeon begleiten.

Manches ist nicht darstellbar. Aus der Badeszene im Stück hat Regisseurin Simone Allweyer ein Picknick gemacht – falls das Wetter schlecht wird, braucht keiner im Badeanzug zu frieren. Oder die Sache mit der nackten Marianne – im Theater im Steinbruch wird die Nachtclub- zu einer Art Dornröschenszene. Simone Allweyer sieht das Stück ohnehin als Märchen für Erwachsene, freilich mit fragwürdigem Happy-End. Das Stück hat Witz, ja, es wird wieder eine Menge zum Lachen geben – aber ebenso oft dürfte den Zuschauern der Atem stocken und das Lachen im Hals stecken bleiben, und das ist Absicht. „Das macht ja den Reiz aus“, sagt Allweyer, „das Stück ist nicht nur ein lustiger Schenkelklopfer.“ Und Horváths Anweisung, dass im Stück kein Wort Dialekt gesprochen werden dürfe? „Das wäre verschenkt“, sagt Allweyer erstaunt. Alle, die es können, sprechen mit Wiener Akzent; tun muss es keiner. Und nicht alles ist politisch korrekt; es wird auch geraucht. „Die Nichtraucher mit E-Zigarette“, verrät Bach.

DIE SCHAUSPIELER
19 Laienspieler sind es, zum Teil spielen sie mehrere kleinere Rollen und manche tragende Rollen sind doppelt besetzt, aus Zeitgründen. Ein Wiedersehen gibt es mit Hans Bürkin, der nach sechsjähriger Pause wieder Lust hatte mitzumachen. Die jüngste Akteurin ist elf Jahre alt, es spielen viele alte Bekannte und einige neue Gesichter. Was sie eint? Liebe zur Bühne ist zu schwach, Sucht trifft es vielleicht besser – aber es ist eine liebenswerte Sucht. Im November begann das Schauspieltraining; dabei führt Simone Allweyer die Akteure mit Improvisationen an Thema, Ort und Charaktere des Stückes heran. Im Februar werden die Rollen verteilt und die Arbeit wird konkreter – und zeitaufwändiger. In den letzten beiden Wochen vor der Premiere stehen die Spieler täglich auf den Brettern und dem Rasen, die hier die Welt bedeuten – Abend für Abend, und wer glaubt, sonntags sei frei, der irrt.

Nicht mit eingerechnet ist da die Zeit, die jeder Einzelne in das Einstudieren seiner Rolle steckt. Jasmin Baumgratz, die die Marianne spielt, nimmt sich dafür zusätzlich acht bis zehn Stunden pro Woche Zeit und das seit Februar. „Es ist eben ein Fulltime-Hobby“, sagt sie. Beim Lesen überlegt sie, wie der Autor diese Figur gespielt hätte, versucht, sich der Marianne anzunähern. Dazu kommen die Proben („das ist wie bei einem Fußballteam“, sagt Allweyer dazu) und viele anderen Arbeiten. „Ich habe die Pfingstferien hier verbracht“, sagt Baumgratz – beim Malern , beim Bühnenbau… „Man kann ja alles bei uns machen, das ist einfach schön.“

„Der Verein ist eine zweite Familie“, ergänzt Simone Allweyer. Sie führt seit einigen Jahren Regie, im Winterstück stand sie selbst wieder einmal auf der Bühne. „Ich brauche den Wechsel, die Perspektive des Spielers“, sagt sie. Aber das Inszenieren mache ihr mehr Spaß: „Jeder bringt etwas mit, ich kriege ganz viele Geschenke von den Leuten, die mitspielen.“ So wächst das Stück durch viele Ideen und erhält ganz persönliche Noten.

DIE PROBEN
Man merkt es Simone Allweyer an, sie geht förmlich in dem Spiel auf. Die Probe beginnt, an diesem Abend sind die großen und schwierigen Szenen dran. Allweyer gibt die letzten Anweisungen und fasst nochmal zusammen: „Laut und deutlich sprechen, bessere, schnellere Anschlüsse – und viel Spaß am Spielen!“ wünscht sie. Dann treten die Baronin und Oskar aus den Kulissen. Oskar, das ist der Fleischer von nebenan, der sich in Marianne verliebt hat. Aber Gunter Hauß hat die Metzgerschürze vergessen und spurtet davon, um sie zu holen. Dann steht er in dem steifen Teil da: „Wer schnürt mich?“ Nein, der Gag steht nicht im Textbuch, aber hilfreiche Hände sind schnell parat. Weiter geht’s.

Immer wieder sind Kleinigkeiten zu korrigieren. Mal lässt Allweyer eine Szene wiederholen, mal werden Änderungen im Regiebuch vermerkt. Eine Woche vor der Premiere ist eben nicht alles komplett. Noch sieht man hinter das Schattenspiel, ist die Bühne etwas kahl und die Schauspieler sind noch nicht so puppenhaft „bemalt“, wie es sein soll. Doch das Stück „lebt“ schon jetzt, die Darstellung reißt mit. Ein heißer Tipp: Hingehen!

Badische Zeitung, 13.06.2015

Kleingeister mit Wiener Schmäh

Das Steinbruchtheater überrascht mit den „Geschichten aus dem Wiener Wald“

Samstag im Steinbruchtheater. Die Premiere des Erwachsenenstücks steht ins Haus. Die neue Tribüne ist nahezu voll besetzt. Das Wetter hält. Noch ein Schlückchen Sekt. Dann ertönt der Gong. Der Spot fällt auf die Bühne. Ein kleines Mädchen mit aufziehbarem Mini-Karusell eröffnet die Szenerie. In uriger Tracht gekleidet verfolgt sie hypnotisiert die Drehbewegungen der Figuren.

Dann beginnen die „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Das moderne Drama von Ödön von Horváth spielt im Wien der 20er-Jahre. Als Schauplatz dient eine kleine Straße. Deren Anwohner geben sich nach außen hin bürgerlich. Sie sind berufstätig, wissen sich auszudrücken, gehen mit den Nachbarn zum Picknick und betrinken sich gemeinsam. Doch hinter all dem edlen Schmäh herrscht der pure Kleingeist. Es wird blind geliebt, gelogen, eifersüchtelt, intrigiert, scheinheilig geglaubt und am Ende auch noch kaltblütig gemordet.

Die Story
Da das Stück in den nächsten Wochen noch 13 Mal aufgeführt wird, soll hier nicht alles verraten werden. Nur so viel: Das Stück lebt von den Personen und deren Beziehungen. Da ist zunächst die schöne und naive Marianne (Jasmin Baumgratz). Deren Verlobung mit dem Fleischhauer Oskar (Gunter Hauß) platz. Stattdessen verfällt Marianne dem charmanten, aber bettelarmen Nichtsnutz Alfred (Michael Schäfer). Von ihm bekommt sie ein Kind. Daraufhin wird sie vom Vater (Clemens Allweyer) verstoßen. Leider funktioniert der Alltag zwischen Marianne und Alfred nicht. Die beiden geben ihr Kind in die Wachau zur Großmutter. Parallel dazu bändelt Alfreds Ex-Freundin Valerie (Silvia Bender) mit dem Nazi-Studenten Erich (Lutz Konkol) an. Marianne ist derweil so verzweifelt, dass sie in einem Bordell landet. Zufällig trifft sie dort auf ihren betrunkenen Vater. Alles mündet in einem Mord, der den scheinbürgerlichen Urzustand in der Wiener Straße ironischerweise wiederherstellt.

Die Inszenierung
Mit dem Horváth-Stück überrascht das Team des Steinbruchtheaters sein Publikum einmal mehr aufs Neue. Regisseurin Simone Allweyer hat die Rollen clever besetzt. Gunter Hauß brilliert in der Rolle des biederen Metzgers. Jasmin Baumgratz steht die Naivität der Marianne und beweist dabei ungeahnte Gesangskünste. Gunda Turowski wird eins mit der bissigen Großmutter. Am beeindruckendsten sind die hysterischen Auftritte von Valerie alias Silvia Bender. Ihr glaubt man jede Gefühlsregung. Bemerkenswert ist zudem das Sprachgefühl. Alle Akteure beherrschen den Wiener Schmäh. Das ist auch wichtig, denn er symbolisiert die Kluft zwischen pathosgetränkter Bürgerlichkeit und Kleingeist. Vor allem Clemens Allweyer trifft den perfekten Ton. In dem zweistündigen Stück kommt viel Musik vor. Hier stimmen die Synchronität zwischen Livegesang und Instrumentalpassagen vom Band. Man vergisst dabei so leicht, dass die Schauspieler im Steinbruchtheater eigentlich keine Profis sind. Erneut ist es dem Team gelungen, sich selbst zu übertreffen. Es lohnt sich, dieses Stück zu erleben. Gelegenheiten gibt es genug.

Emmendinger Tor, 24.06.2015